Während in der vergangenen Woche die Wachstumssorgen in Europa eindeutig nicht verschwunden sind, haben die überraschend hohen Inflationszahlen im Euroraum abermals den Fokus auf eine mögliche Reaktion der Europäischen Zentralbank gelenkt. Infolgedessen stieg die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen um 30 Basispunkte auf 1,24 % und damit den höchsten Stand seit 2014. Die Marktteilnehmer haben ihre Erwartungen hinsichtlich einer Straffung der Geldpolitik nach oben angepasst und rechnen mit weiteren Zinsschritten bis zum Jahresende von insgesamt 120 Basispunkten. Es mehren sich bereits die Stimmen, die eine über das normale Maß hinausgehende Anhebung um 50 Basispunkte bei der nächsten Sitzung fordern. Erst im vergangenen Monat hat sich Präsidentin Lagarde beinahe darauf festgelegt, die Zinssätze zweimal (im Juli und September) um jeweils 25 Basispunkte anzuheben, allerdings nicht vor einem Ende der Nettoanleihekäufe. Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass die EZB von diesem Fahrplan abweichen sollte, indem sie die Märkte bei der nächsten Sitzung in dieser Woche mit einer Zinserhöhung überrascht. Obwohl sich die Konjunktur im Euroraum bisher gut hält und sich nur mäßig verlangsamt, gehen wir davon aus, dass eine weitere Verlangsamung in Verbindung mit einem Inflationshöhepunkt dazu führen wird, dass die EZB die Geldpolitik weniger stark straffen wird. Wir sehen eine erste Zinserhöhung in diesem Zyklus eher im Juli als auf der Sitzung in dieser Woche, und zwar auf -0,25 %. Sollte die geldpolitische Straffung tatsächlich schwächer ausfallen, sich das Wirtschaftswachstum verlangsamen, aber eine Rezession vermieden werden können, so würde dies unseres Erachtens in naher Zukunft eine Unterstützung für Risikoanlagen darstellen, insbesondere angesichts des bereits erfolgten Ausverkaufs im bisherigen Jahresverlauf.
Das konjunkturelle Wachstum blieb im ersten Quartal in den großen europäischen Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien schwach. Angesichts des anhaltenden Krieges in der Ukraine halten sich die aktuellen Konjunkturindikatoren in Europa jedoch erstaunlich gut. Weitere konfliktbedingte Störungen, etwa bei den Energieimporten nach dem teilweisen Ölimportstopp, sowie ein sinkendes Verbrauchervertrauen könnten die Konjunktur in den kommenden Monaten aber zusätzlich belasten. Wir rechnen zwar nicht mit einer tiefen Rezession in Europa in den nächsten sechs bis zwölf Monaten, halten aber eine leichte Rezession für durchaus möglich. Ein weiteres Signal in diese Richtung sendeten heute Morgen bereits die Auftragseingänge der deutschen Industrie. Nachdem diese bereits in den beiden zurückliegenden Monaten rückläufig waren, gingen nun auch die Auftragseingänge im April um weitere 2,7% zurück. Anfang des Jahres hatten die Unternehmen noch über gut gefüllte Auftragsbücher berichtet, da gegen Ende des letzten Jahres höhere Auftragseingänge verzeichnet werden konnten als üblich. Insbesondere der Auftragseingang aus dem Ausland ging zuletzt merklich zurück. Am Freitag vor dem Pfingstwochenende erschienen sehr positive Beschäftigungszahlen aus den USA. Dabei wurde vermeldet, dass außerhalb der Landwirtschaft 390.000 neue Stellen geschaffen wurden. Damit ist nun das Beschäftigungsniveau von vor Beginn der Corona-Pandemie zum Greifen nah. Lediglich die Dynamik bei den Stundenlöhnen hat ein wenig nachgelassen. Letzteres dürfte die Währungshüter in den USA jedoch nicht davon abhalten, weiter an der Zinsschraube zu drehen.
Das Gremium der EZB-Ratsmitglieder tagt am kommenden Donnerstag. Nachdem EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch vor gut einem halben Jahr Leitzinserhöhungen im Jahr 2022 für sehr unwahrscheinlich gehalten hat, steht sie mit ihrem Rat jetzt kurz vor der ersten Anhebung. Wir rechnen bei der Sitzung am Donnerstag erst einmal mit der Ankündigung des Auslaufens der Netto-Anleihekäufe per 30. Juni. Damit macht die EZB wohl den Weg für ihre erste Leitzinsanhebung seit 2011 am 21. Juli frei. Jenseits der EZB steht in Sachen Makrodaten in der Eurozone vor allem das finale Bruttoinlandsprodukt im Auftaktquartal 2022 im Fokus. Und in Deutschland kommen wichtige Industriedaten – heute bereits Auftragseingänge und am Mittwoch Produktionsdaten, jeweils für April. In den USA wird der Fokus diese Woche voraussichtlich am Freitag auf den Inflationszahlen für Mai sowie dem vorläufigen Michigan-Verbrauchervertrauen für Juni liegen. In Asien werden in Japan am Mittwoch die finale Wirtschaftsleistung im ersten Quartal des Jahres sowie am Freitag die Produzentenpreise für den Mai veröffentlicht, und in China richten sich die Blicke am Donnerstag auf die Handelsbilanz und am Freitag vor allem auf die Inflations- und Fabrikpreise ebenfalls für den Monat Mai.
RELATIVE TAKTISVCHE ASSET-ALLOKATION
Unsere Anlagestrategie bleibt weiterhin auf Diversifikation ausgerichtet. Dabei bleiben wir bei unserer übergewichteten Aktienposition mit einer anhaltenden Präferenz für die USA gegenüber Europa und Japan. Zudem übergewichten wir auch Aktien der aus unserer Sicht insgesamt attraktiv bewerteten Schwellenländer, in denen mit Blick nach vorne teilweise auch wieder mehr geldpolitische Lockerungsmaßnahmen wahrscheinlich sind. Unsere strukturellen Branchenfavoriten lauten nach wie vor Technologie und Gesundheit.
Auf der Rentenseite favorisieren wir weiterhin Schwellenländer-Staatsanleihen in Hartwährung sowie asiatische Hochzinsanleihen gegenüber niedrig verzinslichen Anleihen. Da die US-Märkte inzwischen eine klare Fed-Straffung einpreisen, haben wir kürzlich die Untergewichtung von US-Investmentgrade-Bonds reduziert, während wir die Untergewichtung von Euro-Staatsanleihen erhöht haben. Gold bleibt Portfolio-Kernbestandteil.
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