Die gerade gestartete Berichtssaison könnte einige Anleger auf den harten Boden der Realität zurückholen. Dies gilt insbesondere für die Investoren europäischer Firmen. Die beiden vorangegangenen Berichtssaisonen hatten noch deutlich mehr positive Überraschungen bereitgehalten als zu erwarten gewesen wäre. Viele Firmen meisterten die Energiekrise und die schwierige makroökonomische und geopolitische Großwetterlage besser als gedacht. Doch nun scheint das Potenzial für positive Überraschungen weitgehend ausgereizt.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, die Lage sei weiter entspannt, arbeiten doch viele Unternehmen auf Hochtouren aufgelaufene Aufträge ab und können vielfach sogar die Preissteigerungen aus ihrer Lieferkette an ihre Kunden weitergeben. Sogar die die Arbeitslosenquoten liegen nach wie vor auf niedrigen Niveaus. Nicht umsonst wurden in den letzten vier Wochen die Schätzungen des Gewinnwachstums durch die Analysten für den europäischen Aktienmarkt (STOXX Europe 600) um circa sechs Prozent je Aktie angehoben. So erwarteten Analysten im Durchschnitt ein Gewinnwachstum je Aktie von 25 Prozent in Q3 gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Dagegen wurden die Erwartungen für das Gewinnwachstum für den US-Aktienmarkt (S&P 500) nur geringfügig angehoben – auf 6 Prozent Gewinnwachstum je Aktie in Q3 gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ohne Berücksichtigung des Energiesektors sähen diese Zahlen sogar noch negativer aus. Diese Diskrepanz zwischen Europa und den USA ist vor allem deswegen überraschend, da die US-Unternehmen insgesamt und gerade im Hinblick auf die Bewältigung der Energiekrise deutlich robuster aufgestellt sind als die europäischen Firmen. Wir gehen davon aus, dass die Normalisierung der Gewinnschätzungen in den USA schlichtweg früher eingesetzt hat. Diesen schmerzhaften Weg haben die Unternehmen in Europa noch vor sich. Wir halten die Erwartungen an die europäischen Unternehmen für im Durchschnitt zu hoch und deutlich zu optimistisch. Auch hier dürfte eine Normalisierung erfolgen und die Bewertungen der Unternehmen unter Druck setzen. Im Vergleich mit den USA würde der europäische Aktienmarkt dann weiter ins Hintertreffen geraten.
Trotz dieses düsteren Gesamtbilds ist auch in Europa mit einzelnen positiven Ausnahmen zu rechnen. Gerade diejenigen Unternehmen, die international ausgerichtet sind und über Preissetzungsmacht verfügen, könnten für überraschend hohe positive Gewinnrevisionen gut sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie große Teile ihres Geschäfts in US-Dollar abwickeln, denn der Greenback befindet sich in einer Phase ausgeprägter Stärke. Solche Ausnahmen ändern jedoch nichts an unserer Einschätzung des europäischen Aktienmarkts insgesamt: Wir rechnen hier mit nachlassendem Gewinnwachstum und hohem Druck auf die Margen der Unternehmen. Wenn dies nicht schon in den Q3-Zahlen zum Tragen kommt, dann spätestens im nächsten Quartal. Dies dürfte dann zu einer Neubewertung vieler Geschäftsmodelle und damit zu weiterem Druck auf die Aktienkurse führen. Gerade zyklische Sektoren sollten mit großer Vorsicht betrachtet werden. Investoren, die vorausschauend agieren, sollten zudem besonderes Augenmerk auf die Ausblicke für 2023 legen, weniger auf die aktuellen Quartalszahlen. Auch im nächsten Jahr dürften Qualitätsaktien, welche sowohl über robuste Bilanzen als auch über Preissetzungsmacht verfügen, das Mittel der Wahl sein, um das Aktienportfolio durch die rauen Gewässer zu manövrieren.
Marc Decker
Stellvertretender Leiter Aktien bei Quintet Private Bank,
Muttergesellschaft von Merck Finck