In der auslaufenden Berichtssaison haben viele Unternehmen die Erwartungen der Analysten übertroffen, aber nicht die der Märkte. Ein großer Teil der positiven Entwicklung war schon eingepreist gewesen, sodass die Märkte sich weitgehend unbeeindruckt zeigten. Diese Situation ist auch ein Indiz dafür, dass die Erwartungen des Marktes an die Unterneh-men hoch sind und bleiben. Bislang haben in den USA rund 90 Prozent und in Europa etwa zwei Drittel der Unternehmen ihre Geschäftszahlen für das abgelaufene Quartal veröffent-licht. Grosso modo lagen die Gewinnsteigerungen sowohl in den USA als auch in Europa über dem historischen Durchschnitt. Auch der absolute Umfang der gesamten Gewinnerwar-tungen stieg im ersten Quartal stark an und lag über dem Durchschnitt. Erneut konnten die Unternehmen also positiv überraschen: Bei den Gewinnen übertrafen rund 77 Prozent der Unternehmen in den USA die Erwartungen der Analysten um durchschnittlich 6,7 Prozent. In Europa lag der Prozentsatz der Unternehmen mit rund zwei Dritteln an positiven Überra-schungen unter dem in den USA, aber dafür haben sie im Durchschnitt die Erwartungen so-gar um 27 Prozent übertroffen.
Auf Sektorebene berichteten während dieser Berichtssaison in den USA vor allem Unterneh-men aus den Sektoren Zyklischer Konsum und Grundstoffe starke Zahlen, wohingegen in Europa vor allem Unternehmen aus dem Finanz- und Kommunikationssektor mit sehr positi-ven Ergebnissen überraschten. Am unteren Ende lagen dies- und jenseits des Atlantiks der Versorger- und Immobiliensektor. Auch bei den Umsatzsteigerungen konnten US-amerikani-sche und europäische Unternehmen mit soliden Ergebnissen aufwarten. Bemerkenswert ist, dass im Vergleich zum vierten Quartal 2022 die Margen der Firmen im ersten Quartal 2023 leicht gestiegen sind und ebenfalls über den Erwartungen lagen. In den USA liegen die Margen jedoch deutlich unter dem Höchststand und sind auf das Niveau vor der Pandemie zurückgegangen. Auch in Europa liegen die Margen zwar unter dem Höchststand, jedoch immer noch über dem Niveau vor der Pandemie.
Die Kombination aus den niedrigen Erwartungen seitens der Analysten und den sich im Laufe des Quartals verbessernden Fundamentaldaten hat dazu geführt, dass der erwartete Gewinn pro Aktie deutlich übertroffen wurde. Dies ist jedoch weniger ein Ausdruck der star-ken geschäftlichen Leistung der Unternehmen als vielmehr des routinierten und erfolgreichen Erwartungsmanagements. Die Finanzchefs wissen schließlich relativ genau, wie sie die Ana-lystenschätzungen dämpfen und damit die Latte, über die sie springen müssen, nach unten legen können.
Deswegen ist es auch wenig überraschend, dass trotz übertroffener Analystenschätzungen die Reaktion des Marktes bisher recht verhalten ausgefallen ist. Der Markt hatte schlichtweg schon vor dem Analystenkonsens höhere Gewinne eingepreist. Im Durchschnitt erzielten Aktien, die die Schätzungen übertrafen, eine geringere Outperformance als üblich, während die Aktien, die die Schätzungen verfehlten, im historischen Vergleich stärker abgestraft wurden. In dieser Tatsache spiegeln sich auch die aktuell hohen Erwartungen des Marktes wider. Es gibt mit Blick auf die nächste Quartalssaison damit wohl erheblich mehr Raum für Enttäuschungen als für positive Überraschungen.
Marc Decker
Leiter Aktien bei Quintet Private Bank,
Muttergesellschaft von Merck Finck