Spätestens durch den Angriff Russlands auf die Ukraine mit allen geostrategischen Implikationen und Sanktionen befinden wir uns bei der Energiepolitik in einer neuen Zeitenrechnung. Lange vernachlässigte Themen wie die Versorgungssicherheit und die Transformation werden akut, und ein neues Thema wie die Abschöpfung von Mehrgewinnen bei Energiekonzernen kommt hinzu. Verschärft wird die Situation nun durch den Streit mit Russland um die Bezahlung der Gaslieferungen in Rubel. Nach Angaben von Gazprom wurde die Lieferungen von Gas an die Niederlande bereits gestoppt, da die holländische Seite eine Umstellung der Bezahlung von Euro auf Rubel ablehnte. Das-selbe gilt für das dänische Energieunternehmen Ørsted und das britische Unternehmen Shell. In diesen Fällen wurde jedoch davon ausgegangen, dass der Ausfall dieser Lieferungen über den Erwerb von entsprechenden Gasmengen am europäischen Markt bzw. durch eigene Speicher ausgeglichen werden könne. Die Konsequenzen eines kompletten Lieferstopps von russischem Gas sind jedoch schwer absehbar.
Noch wird der Gasbedarf in Europa zu circa 35% mit russischem Gas gedeckt, wobei hier die Abhängigkeiten innerhalb der EU teils massiv divergieren. Die EZB hat Simulationen über eine Gasrationierung von 10 % für den Unternehmenssektor durchgeführt. Dies würde die Wertschöpfung in der Eurozone um etwa 0,7 % verringern. Am stärksten betroffen wären natürlich die Unternehmen des Energiesektors, gefolgt von den Herstellern von Basismetallen, nichtmetallischen Mineralien (wie Glas, Zement, Keramik), Papier und Chemikalien. Nach einer Simulation der Bundesbank würde im Falle eines plötzlichen Embargos russischer Energie das deutsche BIP im ersten Jahr um 5 % unter den März-Prognosen der EZB liegen, das heißt ein Rückgang von 2 % gegenüber 2021.
All dies wirkt jedoch wie ein Katalysator für die Anstrengungen der EU, sich von russischen Energielieferungen unabhängig zu machen. So plant die EU im Rahmen ihres REPowerEU Plan bis Jahresende die Gasimporte aus Russland um zwei Drittel bis Jahresende und auf Null vor dem Jahr 2030 reduziert zu bekommen. Überall wird mit Hochdruck am Aufbau alternativer Energieimporte, wie dem überraschend schnell voran gehenden Aufbau von LNG-Terminals bzw. dem Ausbau regenerativer Energiequellen, gearbeitet.
Hier sehen wir bereits die ersten Anzeichen eines neuen Superzyklus: Dank der herausragenden Bedeutung für die Energieversorgung werden die Anstrengungen beim Ausbau alternativer Energien drastisch erhöht. Die Europäische Union schätzt den Investitionsbedarf bis 2030 auf fast 300 Milliarden Euro, davon 210 Milliarden zusätzlich bis 2027. Entsprechende Pläne wurden beispielsweise seitens der EU in Bezug auf Offshore-Windanlagen in der Nordsee konkretisiert.
Andererseits ist davon auszugehen, dass die Energiepreise hoch bleiben werden. Dem werden sich Diskussionen um eine generelle Bepreisung bzw. Regulation von Energie anschließen.
Das Aufkommen neuer Technologien in den Bereichen Stromerzeugung, Speicherung, Systemmanagement sowie die Digitalisierung und Dezentralisierung der Branche werden die gesamte bisherige Wertschöpfungskette konventioneller Versorgungsunternehmen unter Druck setzen. Sie müssen sich radikal transformieren, um
die Umstellung etwa von Kohlestrom auf Erneuerbare Energien umzusetzen. Doch schon heute gibt es spezialisierte Versorger, die sich ausschließlich auf die Produktion und den Vertrieb von "grünem Strom" konzentrieren. E.ON hat sich zum Beispiel nahezu vollständig aus der Stromproduktion zurückgezogen haben und den Fokus nun auf den Bereich Energienetze sowie den Vertrieb gelegt.
Die Pandemie und ihre Folgen sowie der Krieg in der Ukraine werden diesen Systemwandel, wie bereits beschrieben, beschleunigen. Die weltweiten Vorgaben an die Klimaneutralität stellen hier einen weiteren Katalysator für diese Entwicklungen dar. Für Investitionen ziehen wir daher Unternehmen in Betracht, die Produkte rund um den Strom herstellen- wie etwa Ladegeräte, Sensoren, Schalter und Kabel. Ein weiterer interessanter Sektor ist die Netzwerk-Infrastruktur: Hochspannungsleitungen, der Stromtransport, etwa von Offshore-Windparks zu den Verbrauchern oder die Ladeinfrastruktur von E-Autos Da die Stromerzeugung zunehmend dezentral erfolgt, etwa über Solaranlagen auf Wohnhäusern, kommt auch der Steuerung, Speicherung und Einspeisung eine immer höhere Bedeutung zu. Hier könnten IT-Firmen eine wichtige Rolle spielen.
Marc Decker
Stellvertretender Leiter Aktien bei Quintet Private Bank,
Muttergesellschaft von Merck Finck