Im bisherigen Jahresverlauf sahen wir erhebliche Kursrückgänge bei Aktien (nahe dem Niveau der großen Finanzkrise). Ob die Talsohle damit schon erreicht wurde – das ist die Frage, die die Anleger jetzt bewegt.
Während die neuen makroökonomischen Rahmenbedingungen wie die Inflation und die Reaktion der Notenbanken sicher weitgehend eingepreist wurden, waren die Gewinnerwartungen der Unternehmen bislang eine Stütze für die Aktienmärkte. Die Gewinndynamik zeigte sich sowohl in den USA als auch in Europa trotz zunehmender Rezessionsängste recht robust. In beiden Märkten sind die Erwartungen für den Gewinn je Aktie heute höher als zu Beginn des Jahres, nämlich um drei beziehungsweise elf Prozent. Die Margen hielten sich im ersten Quartal auf hohem Niveau, zumindest bei den Unternehmen, die in der Lage waren, ihre gestiegenen Kosten weiterzugeben. Seit dem Beginn der letzten Berichtsperiode für das erste Quartal 2022 sind die Erwartungen an das Gewinnwachstum der Unternehmen (ohne Energiesektor) in den USA allerdings um etwa vier Prozent gesunken, wohingegen die Erwartungen für das Umsatzwachstum relativ stabil geblieben sind. Der Trend scheint sich dementsprechend zu drehen.
Diese Unterstützung könnte nun, da die Berichtssaison für das zweite Quartal 2022 anbricht, wegbrechen – je nachdem, wie die weiteren Geschäftserwartungen der Unternehmen (Guidance) ausfallen werden. Denn viele Analysten waren bislang noch zögerlich bei der Anpassung ihrer Gewinnschätzungen.
Deshalb werden die nun anstehenden Halbjahresberichte entscheidend sein für den weiteren Verlauf der Aktienmärkte in diesem Jahr; sie werden vermutlich mehr Klarheit über die Auswirkungen der vielen globalen Herausforderungen auf die Unternehmensgewinne bringen.
Während wir in den USA eine Rezession nicht unmittelbar bevorstehen sehen, ist das Bild für Europa unklarer. Eine Gewinnrezession, also eine enttäuschende Gewinnsaison plus starke Revisionen der Erwartungen für die Zukunft, ist vom Markt derzeit nicht eingepreist. Indizien dafür würden also durchaus ein Grund zur Sorge sein für übergewichtete Aktienpositionierungen.
Die gute Nachricht: Eine scharfe Rezession in Europa entspricht nicht unserer makro-ökonomischen Einschätzung. Wir gehen zwar davon aus, dass die Gewinne im zweiten Quartal sinken werden – aber nur im Einklang mit dem sich verlangsamenden Wachstum. Jedenfalls wären davon Zykliker stärker betroffen als defensive Branchen. Weniger betroffen hingegen wären Tech-Werte; ihre Bewertungen haben bereits unter dem Eindruck steigender Zinsen so stark korrigiert, dass nun die Ertragsstärke und Investitionskraft wieder im Vordergrund stehen.
Robin Beugels
Stellvertretender Leiter Aktien bei Quintet Private Bank,
Muttergesellschaft von Merck Finck
MERCK FINCK I A QUINTET PRIVATE BANK